Jule Epp

Ein Aspergervorfall - Erfahrungsbericht eines Autistens

17/08/2020

Ich erinnere mich sehr gut an Einzelheiten. Manchmal ist eine Erinnerung für mich sogar wie ein Film, der sich in meinem Kopf abspielt. Wenn ich mich so erinnere, fühle ich mich als ob es mir nochmal neu passiert. Das macht es schwer zu vergessen. Das ist ein Problem, wenn es eine schlechte Erinnerung ist.

Hier ist eine schlechte Erinnerung.

Hintergrundinformation:

Es war im Allgemeinen eine schwere Zeit für mich.

(Ich war allgemein sehr besorgt.)

Ich wusste, dass ich im nächsten Schuljahr die Klasse wechseln würde.

(Das war sehr beängstigend, weil Veränderungen für mich schwierig sind und ich mir Sorgen um den Klassenlehrer machte. Ich hatte gehört, dass er viel rumschreit. Ich kann es nicht ertragen, wenn mich Leute anschreien. Es fühlt sich so an, als würden sie mich mit ihrer Stimme schlagen. Es macht mir Angst und ich habe das Gefühl auch angreifen zu müssen.)

Dann wurde meine Klassenlehrerin, die ich in den letzten drei Jahren hatte, krank und ich wusste, dass sie für den Rest des Schuljahres nicht mehr da sein würde.

(Das war auch beunruhigend, insbesondere, weil ich mir unsicher war, wie es alleine mit der Schulhelferin klappen würde. Ich hatte das Gefühl, dass die Klassenlehrerin Situationen besser managen und mich besser beruhigen konnte, weil sie nicht rumgeschrien hat. Ich machte mir Sorgen, dass wenn sie nicht da wäre, alles außer Kontrolle geraten könnte. Ich hatte das Gefühl, die Klassenlehrerin versteht mich besser als die Schulhelferin. Und die Schulhelferin konnte manchmal wirklich rumschreien.)

Es gab also eine Ersatzlehrerin.

(Ich hatte kein sehr gutes Gefühl bezüglich der Ersatzlehrerin. An der Art, wie sie mit mir sprach, konnte ich erkennen, dass sie mich nicht verstand. Ich fühlte mich in dieser neuen Situation sehr unsicher.)

Alle meine Freunde hatten bereits im Jahr zuvor die Klasse gewechselt, also hatte ich niemanden außer der Schulhelferin, die mir Sicherheit geben könnte.

(Ich brauchte sie.)

Dann geschah Folgendes:

Ich saß mit anderen Kindern am Gruppentisch.

(Diese Situation war schwierig für mich, weil ich mich schwer konzentrieren konnte. Ich musste etwas lernen, das mich nicht interessierte, und ich fühlte mich besorgt und unsicher. Es fällt mir leichter, alleine am Schreibtisch zu sitzen - v. A. mit Kopfhörern damit es nicht zu laut wird.)

Ich habe Selbstgespräche geführt.

(Ich mache das, weil ich das Bedürfnis verspüre, Kontakt mit mir selbst aufnehmen zu müssen. Ansonsten fühle ich mich verloren, was beängstigend ist. Selbstgespräche helfen mir, an mir selbst festzuhalten.)

Die Schulhelferin sagte mir, ich solle aufhören und ich habe ihr gesagt, dass ich das nicht könne.

(Ich konnte mich wirklich nicht bremsen, weil ich mich in dieser Situation dringend an mir selbst festhalten musste.)

Die Schulhelferin wurde genervt und sagte, dass sich die anderen Kinder gestört fühlten und ich den Raum verlassen sollte.

(Ich wollte den Raum nicht verlassen, weil ich wusste, dass dies als Bestrafung gedacht war. Sie hielt mich für unartig.)

Ich weigerte mich zu gehen und wurde laut.

(Jetzt wurde ich auch wütend! Und beleidigt.)

Sie zog mich körperlich aus dem Raum.

(Jetzt war ich schockiert und wütend, weil ich es nicht ertragen konnte, so behandelt zu werden. Als wäre ich ein Verbrecher!)

Ich sagte zu ihr dann, daß sie mich mit Hitler oder Stalin verglichen hatte.

(Ich habe schon halb gewusst, dass sie das nicht tat, es fühlte sich für mich jedoch so an. Dass sie dachte, ich sei ein schrecklicher Mensch.)

Sie wurde sehr wütend und sagte, dass sie das nicht gesagt hätte und dass wenn jemand sie beschuldigt hätte, wie Hitler oder Stalin zu sein, sie zutiefst betroffen wäre.

(Aber genau das war es! Ich war, von dem was sie sagte, zutiefst betroffen. Sie verstand nicht, was ich sagen wollte!)

Ich fing an zu schreien.

(Jetzt fing ich an, mich außer Kontrolle zu fühlen.)

Sie sagte, dass mein Verhalten völlig inakzeptabel sei, dass ich fast erwachsen sei und mich auf gar keinen Fall so weiter benehmen darf: „Das geht gar nicht!“.

(Ich konnte es nicht ertragen, dass jemand mit mir so spricht. Besonders wenn sie dazu gleichzeitig auch noch schreien! Ich hatte das Gefühl, als brach ein innerer Krieg in mir aus.)

Ich habe sie angeschrien, dass ich ein Asperger-Gehirn habe und ich nichts dafür kann.

(Ich habe damit versucht, ihr zu erklären, dass es einen Grund für mein Verhalten gibt. Dass ich überbelastet war und kein schlechter Mensch bin.)

Sie sagte, das sei nur eine Ausrede. Die anderen Kinder mit Aspergersyndrom verhalten sich nicht so.

(Jetzt fühlte ich mich beschämt. Sie sagte, dass nur ich so bin. Dass etwas mit mir nicht stimmt. Dass ich der einzige bin und einfach ein schlechter Mensch bin.)

Ich fing an zu schreien, dass sie mich hasst.

(Ich bekam starke Angst. Ich fühlte mich von ihr abgelehnt.)

Sie schrie, dass sie mich nicht hasst. Sie wusste halt nur nicht, wie sonst noch mit mir umzugehen. Was ist, wenn ich eines Tages mit einer Waffe in die Schule komme?

(Nun, das war wirklich viel zu viel für mich... Der innere Krieg brach vollständig in mir aus. Die Vorstellung, dass sie dachte, ich wäre ein so schlechter Mensch war unerträglich!)

Ich fing an, mich zu schlagen und an der Hand zu beißen, bis meine Hand zu bluten begann.

(Ich fühlte mich völlig außer Kontrolle.)

Ich habe auch versucht, sie zu beißen, aber sie hat mich aufgehalten und ist dann zurück in den Klassenraum gegangen und hat gesagt, dass sie nichts mehr damit zu tun haben möchte.

(Ich wurde schreiend allein gelassen. Ich fühlte mich, als würde jemand versuchen mich umzubringen.)

Ich versuchte mich zu beruhigen, weil ich wieder mit ihr sprechen musste.

(Ich fühlte mich so verzweifelt und ich brauchte jemanden, der mir half, mich besser zu fühlen. Ich brauchte unbedingt Hilfe und ich hatte nur sie! Also musste ich mich etwas beruhigen, um sie dazu zu bringen, zu kommen ...)

Nach einer Weile konnte ich mich etwas beruhigen, klopfte an die Klassentür und bat mit meiner Schulhelferin zu sprechen. Die Lehrerin sagte nein, die Schulhelferin sei beschäftigt.

(Die Spannung in mir fing wieder an zu steigen ...)

Ich flehte sie an „Bitte, bitte, lass mich sie sehen!“

(Jetzt kam die Panik…)

Die Lehrerin lehnte ab und schloss die Klassentür.

(Ich fühlte mich, als müsste ich sterben.)

Ich fing an zu schreien und mich wieder zu schlagen.

(Ich fühlte mich, als würde ich gefoltert.)

Ich wurde alleine im Flur gelassen und ging in einen leeren Teilungsraum.

(Ich wusste nicht, wie ich mich trösten könnte. Ich fühlte mich völlig außer Kontrolle, was das schrecklichste Gefühl ist, das es gibt. Ich fühlte mich nun wirklich wirklich so, als würde ich sterben.)

Ich schrie und weinte eine Dreiviertel Stunde lang allein.

(Als ich aufhörte, fühlte ich mich innerlich gebrochen.)

Schließlich kam meine Mutter, um mich nach Hause zu bringen.

(Zu diesem Zeitpunkt fühlte ich mich total benommen.)

Meine Mutter hat mich danach zwei Monate lang von der Schule ferngehalten.

(Ich wollte eigentlich nicht zu Hause bleiben, weil ich es mit der Schulhelferin wieder gut machen wollte. Ich fühlte mich schlecht wegen meines Verhaltens. Meine Mutter erzählte mir Jahre später, dass die Schulhelferin gesagt hatte, dass SIE mich nicht zurück haben wollte, aber meine Mutter hat mir das zu dem Zeitpunkt nicht sagen wollen. Ich glaube, ich hätte sterben wollen, wenn ich gewusst hätte, dass sie mich nicht mehr gewollt hatte.)

Ich erinnere mich, wie oft ich das Gefühl hatte, die Leute hätten mich in der Schule nicht verstanden. Ich erinnere mich an Situationen, in denen ich mich völlig außer Kontrolle fühlte, weil ich völlig überbelastet war. Sie dachten, ich sei ein schlechter Mensch. Ich hatte Angst, dass ich vielleicht tatsächlich ein schlechter Mensch bin. Aber jetzt, wo ich nicht mehr zur Schule gehe, weiß ich es besser.

Ich bin kein schlechter Mensch.

Aaron Tyrtania©2019

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